Es war ein weit entfernter, vereinsamter Wald. Grauer Nebel zog kilometerweite Schleier, Regen drang durch die triste, verwahrloste Landschaft. Schon lange bahnte sich kein Lichtstrahl mehr in sein tiefstes Inneres. Doch eines Tages bestritt eine mutige Frau den langen Weg
entlang der Dunkelheit. Ihr sonnengelber Schirm verscheuchte jedes
Nass, ihr Gang war furchtlos und stark.
Nach langem Marsch
entdeckte die alte Frau eine kleine, dunkle Höhle. Fast lautlos
vernahm sie das pulsierende Herz, das in dem Inneren traurig schlug.
Vorsichtig ging sie hinein und blickte in verschreckte Augen.
„Wer ist da?“,
fragte die Frau behutsam und setzte sich auf die feuchte Erde. Ihre
ruhige Stimme klang vertraut.
„Ich“, ertönte
es leise, „Ich bin das Leben.“
Die Augen der Frau
fingen an zu leuchten.
„Was machst du
hier? Bist du denn nicht einsam?“, fragte die alte Frau und rückte
näher.
„Doch“,
antwortete das Leben, „ich bin einsam. Schon vor langer Zeit lief
ich davon, so weit mich meine Füße tragen konnten. Seitdem sah ich
niemanden mehr. Das macht mich sehr traurig, doch mir geht es besser hier.
Es ist furchtbar dort draußen.“ Das Herz pochte nun nicht mehr vor
Angst. Es raste vor Kummer und Wut.
„Sag‘ mir,
Kleines, wovor liefst du davon?“ Die alte Frau streichelte zaghaft
die Schulter des Lebens. Kaum noch Haut legte sich über die
knöcherige Gestalt, sie wirkte kraftlos und von Kälte geschunden.
„Vor den
Menschen“, erwiderte das Leben mit tiefsitzender Bitterkeit. „Weißt
du, es scheint, als würde mich jeder unbedingt wollen, doch niemand
weiß mich wirklich zu schätzen. Die Menschen kratzen sich
gegenseitig die Augen aus. Doch die Wunden“, erklärte das Leben
mit nun brüchiger Stimme“, „die Wunden, die trug ich.“
Die alte Frau nickte
verständnisvoll und strich dem Leben eine Träne aus dem Gesicht.
„Das ist nicht
alles. Sie führten grundlos Kriege und gaben mir die Schuld. ‚Scheiß
Leben‘, sagten sie dann, bis ich ihnen glaubte. Von vielen wurde
ich verbannt und ihr Hass stieß mich harsch hinfort. Ich weiß, dass
ich nicht immer gerecht war. Und manche Menschen hassten mich
zurecht. Doch auch das, was ich jedem gleichsam lehrte, das berührte
sie nicht mehr.“
„Mein liebes
Leben, was lehrtest du den Menschen?“, fragte die alte Frau
neugierig. Ihre zarten Hände schmiegten sich behutsam um die
weinende Gestalt.
„Ich lehrte sie,
zusammenzuhalten. Ich gab ihnen Individualität, Unterschiede,
verschiedene Eigenschaften. Damit sie verstehen, dass jeder
besonders, aber deshalb nicht besser oder schlechter ist. Sie sollten
lernen, den Wert in sich selbst zu erkennen, doch auch den der
anderen Menschen. Viele hatten nicht die selben Voraussetzungen –
das konnte ich ihnen nicht bieten. Und ja, manche musste ich
vernachlässigen, um mich anderen zu widmen. Doch ihr Hass richtete
sich nicht allein gegen mich – er richtete sich gegen den Menschen.
Und dann entwickelten sie Neid und Missgunst.“ Das Leben blickte
nun traurig zu Boden, der Schmerz war deutlich zu spüren.
„Damit zerstörten
sie nicht nur meinen Anteil an ihrem eigenen Dasein, sondern sie
erschufen eine Welt, in der es um Hierarchien, Konkurrenz und um Auf-
und Abwertungen ging. Mit jedem Schlag, den sie gegen sich ausholten,
hielt ich meinen Kopf gleich mehrmals hin. Immer mehr von ihnen
verloren die Verbindung zu mir. Bis ich mich entschied,
davonzulaufen. Ich ließ ihnen eine Fläche, auf der sie ‚sein‘
konnten. Was sie mit ihr machen, das liegt nun allein bei ihnen.“
„Ich verstehe“,
flüsterte die alte Frau und nahm das Leben tröstend in den Arm. „Es
tut mir sehr leid, dass es dir so schlecht geht. Doch ich habe lange
nach dir gesucht...“ Das Leben schaute überrascht auf, sein Herz
schlug wieder schneller.
„Nach mir?“,
fragte es ungläubig. Es hatte doch lang niemand nach ihm
gefragt.
„Ja“, antwortete
die Frau. „Auch ich habe Probleme, die Menschen zu erreichen.“
Sie lächelte, als sei das eine aufbauende Nachricht. Doch dann
erzählte sie weiter.
„Seitdem du weg
bist, versinkt die Welt im Chaos. Den Menschen fehlt zunehmend der
Sinn. Ich habe versucht, ihnen zu helfen und zeigte ihnen, dass sie
die falsche Richtung einschlugen. Doch sie verstehen nicht, dass es
kein Leben ist, wenn man es auf Kosten anderer führt. Sie glauben,
dass sie Glück bekommen, wenn sie es jemandem nehmen und dass sie
nur stark sind, weil es woanders Schwäche gibt. Ich brauche deine
Hilfe.“
Lange denkt das
Leben über die Worte der alten Frau nach.
„Aber sag‘ mir,
was kann ich bloß tun?“ Der Zweifel lässt den Boden vibrieren.
„Zeig‘ ihnen,
dass es sich lohnt, gut zu sein. Lehre sie, dass Harmonie und
Mitgefühl stärker sind als Hass und Furcht. Dann kann ich sie mit
dem Gefühl belohnen, nach dem sie sich eigentlich sehnen.“ Die
alte Frau steht langsam auf und reicht dem Leben die Hand, um ihr zu
folgen. Doch bevor das Leben nach ihr greift, hat es noch eine letzte
Frage.
„Sag‘ mir noch,
wer bist du eigentlich?“
„Ich...“,
antwortete die Frau mit einem Lächeln. „Ich bin die Liebe.“
Eine Geschichte von Madeline Albers, inspiriert von "Das Märchen von der traurigen Traurigkeit" von Inge Wuthe.
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