"Wer bist du?" fragte die kleine Frau neugierig und bückte sich ein wenig hinunter. Zwei lichtlose Augen blickten müde auf. "Ich ... ich bin die Traurigkeit", flüsterte eine Stimme so leise, dass die kleine Frau Mühe hatte, sie zu verstehen.
"Ach,
die Traurigkeit", rief sie erfreut aus, fast als würde sie eine
alte Bekannte begrüßen.
"Kennst
du mich denn", fragte die Traurigkeit misstrauisch.
"Natürlich
kenne ich dich", antwortete die alte Frau, "immer wieder
einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet."
"Ja,
aber ..." argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du
nicht vor mir, hast du denn keine Angst?"
"Oh,
warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch
selber nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst und dich so
nicht vertreiben lässt. Aber, was ich dich fragen will, du siehst -
verzeih diese absurde Feststellung - du siehst so traurig aus?"
"Ich
... ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger
Stimme.
Die
kleine alte Frau setzte sich jetzt auch an den Straßenrand. "So,
traurig bist du", wiederholte sie und nickte verständnisvoll
mit dem Kopf. "Magst du mir erzählen, warum du so bekümmert
bist?"
Die
Traurigkeit seufzte tief auf. Sollte ihr diesmal wirklich jemand
zuhören wollen? Wie oft hatte sie vergebens versucht und ...
"Ach,
weißt du", begann sie zögernd und tief verwundert, "es
ist so, dass mich offensichtlich niemand mag. Es ist meine
Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und eine Zeitlang bei ihnen
zu verweilen. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Aber fast
alle reagieren so, als wäre ich die Pest. Sie haben so viele
Mechanismen für sich entwickelt, meine Anwesenheit zu leugnen."
"Da
hast du sicher Recht", warf die alte Frau ein. "Aber
erzähle mir ein wenig davon."
Die
Traurigkeit fuhr fort: "Sie haben Sätze erfunden, an deren
Schutzschild ich abprallen soll.
Sie
sagen "Papperlapapp - das Leben ist heiter", und ihr
falsches Lachen macht ihnen Magengeschwüre und Atemnot.
Sie
sagen "Gelobt sei, was hart macht", und dann haben sie
Herzschmerzen.
Sie
sagen "Man muss sich nur zusammenreißen" und spüren das
Reißen in den Schultern und im Rücken.
Sie
sagen "Weinen ist nur für Schwächlinge", und die
aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe.
Oder
aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht
spüren müssen."
"Oh
ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir
oft in meinem Leben begegnet. Aber eigentlich willst du ihnen ja mit
deiner Anwesenheit helfen, nicht wahr?"
Die
Traurigkeit kroch noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Ja, das
will ich", sagte sie schlicht, "aber helfen kann ich nur,
wenn die Menschen mich zulassen. Weißt du, indem ich versuche, ihnen
ein Stück Raum zu schaffen zwischen sich und der Welt, eine Spanne
Zeit, um sich selbst zu begegnen, will ich ihnen ein Nest bauen, in
das sie sich fallen lassen können, um ihre Wunden zu pflegen.
Wer
traurig ist, ist ganz dünnhäutig und damit nahe bei sich.
Diese
Begegnung kann sehr schmerzvoll sein, weil manches Leid durch die
Erinnerung wieder aufbricht wie eine schlecht verheilte Wunde. Aber
nur, wer den Schmerz zulässt, wer erlebtes Leid betrauern kann, wer
das Kind in sich aufspürt und all die verschluckten Tränen
leerweinen lässt, wer sich Mitleid für die inneren Verletzungen
zugesteht, der, verstehst du, nur der hat die Chance, dass seine
Wunden wirklich heilen.
Stattdessen
schminken sie sich ein grelles Lachen über die groben Narben. Oder
verhärten sich mit einem Panzer aus Bitterkeit."
Jetzt
schwieg die Traurigkeit, und ihr Weinen war tief und verzweifelt.
Die
kleine alte Frau nahm die zusammengekauerte Gestalt tröstend in den
Arm. "Wie weich und sanft sie sich anfühlt", dachte sie
und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur,
Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus,
damit du wieder Kraft sammeln kannst. Ich weiß, dass dich viele
Menschen ablehnen und verleugnen. Aber ich weiß auch, dass schon
einige bereit sind für dich. Und glaube mir, es werden immer mehr,
die begreifen, dass du ihnen Befreiung ermöglichst aus ihren inneren
Gefängnissen. Von nun an werde ich dich begleiten, damit die
Mutlosigkeit keine Macht gewinnt."
Die
Traurigkeit hatte aufgehört zu weinen. Sie richtete sich auf und
betrachtete verwundert ihre Gefährtin.
"Aber
jetzt sage mir, wer bist du eigentlich?"
"Ich",
antwortete die kleine alte Frau und lächelte still. "Ich bin
die Hoffnung!"
Verfasser/Autor:
Inge Wuthe
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